Lernen und der innere Boykott
Beim Klavier spielen werden Fehler gemacht: ein falscher Ton, ein falscher Rhythmus, eine technische Schwierigkeit. Die gleichzeitige Bewegung der Finger an linker und rechter Hand wird gelernt. Schwierige Tonfolgen werden wiederholt, um sie zu lernen und Fehler zu eliminieren. Die Fehler verschwinden. Ein normaler Vorgang. In einigen Situationen verschwinden Fehler nicht, nicht in einer für die Spielerin / den Spieler akzeptierten Zeitspanne, noch nach einer für sie / ihn akzeptablen Anzahl an Wiederholungen. Werden diese akzeptablen Werte überschritten, entsteht im schlimmsten Fall lähmende Frustration, im günstigen Fall wird die Spielerin / der Spieler ungeduldig.
Die Ungeduld begleitet das Spielen: wiederholen, wiederholen, es klappt dennoch nicht, das Spielen wird auf den Kopf verlagert: „Ich muss mich nur mehr konzentrieren“. „Ich muss nur aufmerksamer sein.“ Mehr Konzentration führt zur Anspannung, zu Atmungsunterbrechungen. Die Noten werden gelesen, können aber nicht auf die Hände übertragen werden. Die Hände können nicht lernen. Und sie können nicht mehr von selbst tun, was sie bereits können.
Und nun beginnt der Selbstboykott. Es wird kein spielen, kein musizieren mehr erlebt. Ohne Spaß ist, was einmal mit Spaß begonnen hat, hoffnungslos scheint es zu sein, Klavier spielen zu lernen, und die Anstrengung, sich noch mehr und doch bitte endlich zu konzentrieren, führt immer weniger zum fehlerfreien Spiel.
Das innere Kind
Was abhält, ist die Furcht vor der Frustration, die das Lernen seit Schultagen begleitet. Der Versuch zu lernen begleitet uns seit wir auf der Welt sind. Unsere Fähigkeiten haben uns inzwischen weit gebracht. Wir erlebten Misserfolge, bei dem unser Lernen zu nichts oder nicht zu dem gewünschten Ergebnis führte. Haben wir inzwischen Erfolg und Zufriedenheit zum Beispiel im Beruf erreicht, so gibt es doch dieses kleine „innere Kind“, dass schnell ungeduldig wird, keine Toleranz mehr hat gegenüber schwierigen Situationen. Frustration und Ungeduld machen lernen unmöglich und je älter wir werden, desto weniger wollen wir diese Frustration erleben und daher auch nicht erst provozieren, indem wir etwas Neues beginnen.
Das misslingende Lernen und die daraus entstehende Ungeduld mit sich selbst weckt das innere Kind. Das innere Kind hat damals als wir Kind waren Schmerz (z. B. beim Lernen) gefühlt. Es lernte mit der Zeit den Schmerz wegzudrücken, denn er hätte verhindert, erwachsen zu werden. Der Schmerz lebt im inneren Kind weiter während wir bereits erwachsen, erfolgreich sind, ja unseren Weg gehen. Und er zeigt sich mitunter: vor allem beim Lernen und vor allem im Lernen während dessen man alleine ist. Wegen dieses inneren Kindes und seines Schmerzes entsteht zum Beispiel während des Spielens am Klavier eine plötzliche Frustration, eine unerwartete immense Wut auf sich selbst und eine lähmende Ungeduld mit sich selbst, die ausgelöst wird durch Fehler. Ein Fehler und schwere Stellen können zwar gelernt werden. Lernen wird jedoch durch die Frustration verhindert. Man möchte spielen, Klavier spielen lernen und fühlt sich unter Druck gesetzt und ist wütend. Hinter der Wut liegt der Schmerz, der Schmerz des inneren Kindes.
Lernen braucht daher selbstverständlich Zeit, Geduld, Verständnis und Zuwendung. Und da man sich das schwer in dem Moment geben kann, könnte es jemand anderes, z.B. im Unterricht. Dort kann Lernen Ausdruck kreativer Lebendigkeit sein. Das innere Kind hat Ihnen das vielleicht schon lange mitgeteilt, ist nur noch gekoppelt an die Ungeduld, die es von früher her kennt. Es gilt, das innere Kind in seinem Bedürfnis ernst zu nehmen.
„Irgendwann möchte ich mal Klavier spielen.“ Mit Leidenschaft und Intensität sich einer Tätigkeit hinzugeben, bedeutet, es zu machen und zu erleben – und ohne dass man entscheidet, dass es Sinn macht und man `gut genug´ dafür ist.
„Ich würde gerne einmal Klavier spielen“, heißt auch, dem Glücksgefühl nachzugehen – ohne auf die Leistung zu schauen und Maßstäbe zu formulieren, ab wann Sie von „Klavier spielen“ erst sprechen wollen. Klavier spielen zu lernen um sich auszudrücken ist möglich.
Da das innere Kind behauptet, wir können uns gar nicht alleine glücklich machen, ist es gut, jemanden zu nutzen (Klavierunterricht). Weiter findet das innere Kind Klavier zu lernen eine egoistische Tätigkeit. Ja, Klavier spielen ist erst einmal eine egoistische Tätigkeit: man sitzt alleine an dem großen Instrument, spielt und hört sich, Klang nur für sich selbst. Und gerade das ist so fantastisch, weil es persönlich ist und sie es selbst sind. Kreativität ist etwas höchst persönliches, ja Intimes zumeist.
Das innere Kind wird kritisieren, dass keine Sonaten, Präludien und Fugen gespielt werden. Um das Klavier klingen zu lassen, können es erst einmal sehr kleine Stücke sein, die das höchsteigene Gefühl oder Bild oder schlicht das Existieren ausdrücken. Weil sie das sind und so ausreichen, wie Sie sind. Diese Existenzversicherung kann zu Glück führen – für das kein weiterer Mensch gebraucht wird.
Klavier lernen auch im Alter ist möglich
Lernen, ohne ein Instrument zu besitzen und ohne täglich zu üben, ist möglich.
Lernen ohne Frustration ist möglich.
Lernen ohne gelähmt zu werden von Fehlern ist möglich.
Nehmen Sie Ihr inneres Kind mit auf eine neue Reise des Lernens: lernen Sie Klavier spielen. Der richtige Zeitpunkt ist jetzt.
Mit Hilfe des Unterrichts können die schmerzvollen Überzeugungen des inneren verlassenen Kindes überwunden werden und der Wunsch, zu lernen kann in Erfüllung gehen.
Das kleine Kind wird zuerst ganz lange belohnt, indem es solche Angebote erhält, die es leicht bewältigen kann. Da es eben lange keine oder kaum Frustrationen gibt, steigt die Frustrationstoleranz. Und dann irgendwann fällt es leicht, schwierigere Noten und schwere Stellen zu üben. Üben frustriert nun nicht mehr, sondern ist der Weg, um das Stück zu spielen, das man gerne spielen möchte.